Peinlich ist, wenn alle gucken!

WAS ist eigentlich peinlich? UND wichtiger: was ist WEM peinlich? Bevor ich begann diesen Artikel zu schreiben plagten mich diese Fragen und ich drehte und wendete sie hin und her, ohne eine Antwort zu finden.

Schließlich begann ich meine Freunde zu fragen und die Sache wurde spannend. Denn jeder, den ich fragte, erzählte eine andere Geschichte. Und die meisten davon waren sehr unterhaltsam, unglaublich und manchmal bogen wir uns vor Lachen.
Die Recherchearbeit für diesen Artikel hat mich also zu den seltsamsten Offenbarungen und Anekdoten meines Freundeskreises geführt und ich durfte tiefe Einblicke nehmen. Um Diskretion walten zu lassen habe ich jedoch nur die, sagen wir mal, am wenigsten peinlichen Geschichten heraus gesucht, um meine Gedanken zu verdeutlichen.
Nehmen wir beispielsweise Hannes. Hannes bekam auf meine Frage, was peinlich sei, einen hochroten Kopf und erzählte dann, eher wiederstrebend eine Anekdote wie er im Supermarkt an der Kasse stand und nicht genug Geld zum Zahlen dabei hatte.
Insgeheim fand ich diese Geschichte wenig spektakulär und ich wunderte mich, wie einem so etwas peinlich sein kann, da das ganz sicherlich schon jedem von uns im Leben passiert ist.

Und da ich mich nicht geniere und sehr direkt bin, bohrte ich auch gleich penetrant nach: „Hannes?“ fragte ich mit bedrohlichem Unterton in der Stimme. „Warum war Dir diese Situation überhaupt peinlich?“ und abmildernd fügte ich hinzu: „Das kann doch jedem mal passieren.“
Hannes führte daraufhin aus, dass die Peinlichkeit weniger in der Tatsache bestand, dass er zu wenig Geld dabei hatte, sondern eher in dem Gedanken, was wohl die umstehenden Kunden von ihm dachten: „Was ist denn das für ein Assi!“, „Der kann sich nicht mal einen Einkauf im Supermarkt leisten!“, „Man überlegt sich doch vorher, was man aufs Band stellt!“

Zur Peinlichkeit gehört immer der Andere.

Angestoßen von Hannes Geschichte fiel mir ein eigenes Erlebnis wieder ein, von dem ich dachte, es meisterhaft verdrängt zu haben und um es in dieser Berichterstattung nicht allzu peinlich werden zu lassen, erzähle ich die Anekdote nun unter einem Decknamen: nehmen wir mal Anna.
Anna ging also einkaufen, hatte es eilig, entschied sich keinen Wagen zu nehmen, da es ja nur ein paar Artikel werden sollten und stand schließlich mit vollen Armen vor der Kasse. Auf dem Weg dorthin hatten sich nämlich noch ungeplant zusätzliche Artikel ganz frech in ihren Einkauf gemogelt: unter anderem eine riesige Flasche Ketchup. Diese eng umschlossen von Müsli, Chips und Nudeln begann während des Wartens in der Schlange langsam, aber unaufhaltsam am glatten Plastik der umgebenden Packungen hinab zu gleiten. Die Gewichtsverlagerung spürend drückte Anne zu, konnte es aber nicht verhindern, dass die Flasche mit voller Geschwindigkeit und Wucht und natürlich mit einem entsprechenden Klirren auf den Boden des Supermarktes fiel und dort zerschellte. Selbstverständlich nicht ohne Ketchupspritzer auf dem gesamten Boden sowie den Hosenbeinen mehrerer umstehender Kunden zu hinterlassen.

Was mir ebenfalls wieder einfiel, im Zusammenhang mit dieser Geschichte, ist das Gefühl, das Anna hatte: so ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend und das Bedürfnis ganz weit weg zu sein und den tadelnden Blicken der anderen zu entgehen.
Tatsächlich scheint das Gefühl von Peinlichkeit nicht bzw. nur selten vorzukommen, wenn man mit sich alleine ist. Egal ob man gerade in der Nase bohrt oder noch unanständigere Dinge tut. Zur Peinlichkeit gehört immer der Andere, der Gegenüber und das damit in Verbindung stehende Gefühl bei etwas ertappt worden zu sein, was man eben nicht tut.

Letztendlich kann dieses „was man nicht tut“ im kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Kontext verschieden sein. Immer handelt es sich jedoch um festgeschriebene Konventionen und Regeln. Und wenn man dagegen verstösst bringt einem dies die Aufmerksamkeit und somit auch die Missbilligung der Anderen ein und führt zum Gefühl der Peinlichkeit.

Ich war inzwischen rot angelaufen, da uns alle angestarrt hatten.

Im Grunde findet hier eine Konditionierung im Pawlowschen Sinne statt: eine begangene Handlung wird entweder von der Umgebung honoriert oder eben missbilligt. Entsprechend der Reaktionen beginnen wir folglich Handlungen zu wiederholen, welche auf positive Ressonanz stoßen, zum Beispiel den Gegenüber anlächeln und grüßen. Andere Handlungen, die auf Missbilligung stoßen, versuchen wir fortan zu unterlassen, Beispielsweise Ketchupflaschen auf dem Supermarktboden zerschellen lassen.
Tun wir etwas, von dem wir wissen, dass es gegen die Konventionen verstösst, fühlen wir uns automatisch unwohl. Wir sind uns bewusst, dass ein solches Verhalten die Ablehnung der Umgebung auf uns zieht. Wenn nun niemand da ist, der gucken könnte, kommen wir nochmals glimpflich davon. Anders sieht es aus, wenn uns jemand gegenüber steht, dann passiert eben das, was mein Freund Hannes schilderte: auch wenn der Andere nichts sagt, ist es uns peinlich, weil wir selbst uns das Nichtgesagte, das Nurgedachte vorstellen. Es reicht also zur Peinlichkeit schon, dass der andere nur guckt.

Abschließend möchte ich noch eine Anekdote erzählen, die ein interessantes Licht auf das Empfinden der Peinlichkeit wirft. Einmal schlenderte ich mit meinem Freund die Straße entlang. An der Bushaltestelle blieb dieser stehen und sprach ein wildfremdes Pärchen an: „Ah, Hallo. Seid ihr eigentlich morgen zu Hause? – Ich erwarte nämlich ein Päckchen!“

Diese Fragestellung und Information wurde mit einem entsetzten Blick des Pärchens beantwortet, woraufhin mein Freund beides nochmal – diesmal natürlich lauter und langsamer- wiederholte und damit auch die Aufmerksamkeit umstehender Passanten auf sich zog.
Nach einigen abwehrenden Antworten und betretenem Schweigen, verabschiedete sich mein Freund artig: „Hätte ja sein können, einen schönen Tag Euch noch!“ und wir zogen weiter.

Ich war inzwischen rot angelaufen, da uns alle angestarrt hatten. An meinem Freund prallte die Reaktion der Anderen jedoch unbemerkt ab. Was ich wiederum bemerkenswert fand.

„Die waren aber komisch heute!“ sagte mein Freund als wir weitergingen in nachdenklichem Tonfall. „Wer zur Hölle war das eigentlich?“ konnte ich mich nun nicht mehr zurückhalten. „Na, unsere Nachbarn!“ antwortete der noch immer ungerührte Freund im Brustton der Überzeugung.
Fassungslos erläuterte ich ihm, dass er gerade wildfremde Leute angesprochen hatte, was er jedoch nur mit einem: „Na, sie sahen zumindest fast genauso aus – aber mir kamen sie auch komisch vor!“ quittierte.

Offensichtlich gibt es also auch Menschen, denen nichts peinlich ist (mein Freund gehört wie nun jeder weiß dazu) und was die Geschichte zeigt, es gibt das Phänomen des Fremdschämens: Ein anderer begeht eine peinliche Handlung und man selbst schämt sich dafür. Aber auch das ist leicht erklärbar, denn auch hier gilt: peinlich ist, wenn alle gucken!

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